Soziobiologie: Was, wenn die Soziobiologen Recht haben?

Soziobiologie: Was, wenn die Soziobiologen Recht haben?
Soziobiologie: Was, wenn die Soziobiologen Recht haben?
 
Eine der Kernthesen der Soziobiologie lautet, dass wir Menschen mit allen unseren Systemeigenschaften ein »Produkt der Evolution« sind, oder umgekehrt, dass für keine menschliche Systemeigenschaft der Rückgriff auf eine übernatürliche Erklärungsinstanz erforderlich ist. Weder unser »Geist« fiel vom Himmel noch die verschiedenen Formen des Bewusstseins und auch nicht das, was wir unter menschlicher »Moralität« verstehen. Anders formuliert: Unser Bewusstsein — inklusive dessen, was wir »Selbst«, »Ich« oder auch »Seele« nennen — ebenso wie unsere Moralität sind nach dieser Auffassung nichts anderes als im Laufe der Evolution durch Mutation und Selektion entstandene Anpassungsleistungen an (früher!) gegebene Überlebensbedingungen, die zur evolutiven »Fitness« beitragen — und zwar zur evolutiven Fitness von Genen. Noch deutlicher: Unser Bewusstsein von uns selbst als einem »Ich«, unser Glaube an eine (immaterielle) »Seele« ebenso wie unser Moralempfinden sind letztlich nichts anderes als raffinierte Tricks oder »Erfindungen« der Gene, deren einziger Zweck es ist, ihre eigene Überlebenstauglichkeit zu maximieren. »Unser« individuelles Leben und Überleben ist demnach in evolutivem Sinne nur insofern relevant — und hat nur insofern »Sinn« —, als es dem Fortbestand von Genen dient, deren Überlebensmaschinen wir sind.
 
Sollte all das zutreffen, dann drängen sich eine Reihe von Konsequenzen auf, die für verschiedene Wissenschaftsdisziplinen geradezu revolutionär sind, darüber hinaus aber sowohl für unser Selbstverständnis als auch für unsere Lebenspraxis von außerordentlicher Bedeutung sein könnten. Zwei dieser möglichen Konsequenzen werden im Folgenden im Sinne von Denkanstößen genannt und ihre wahrhaft ungeheure Tragweite aufgezeigt.
 
 Die merkwürdige Auflösung des »Selbst«
 
Wenn das, was wir »Selbstbewusstsein« oder »Seele« nennen, nichts anderes ist als ein genetischer Trick; wenn »ich« nichts anderes bin als mentale Repräsentation hirnphysiologischer Prozesse; wenn Gedanken und Gefühle nichts anderes sind als das »Feuern von Neuronen«, dann heißt das doch offensichtlich, dass es »mich« eigentlich, also in dem Sinne, wie oder wer ich zu sein glaube, gar nicht gibt. Auf die Spitze getrieben: »Ich« bin nur Illusion; »ich« bin niemand!
 
Aber ist das nicht der Gipfel des philosophischen Unsinns? Denn wer ist es denn, der da an seiner Existenz zweifelt? Ego dubito ergo sum: Ich zweifle, also bin ich! Heißt das nicht umgekehrt, dass die rein materialistische Evolutionstheorie und damit auch die Selbstbewusstseinstheorie der Soziobiologen zumindest defizitär, wenn nicht schlicht falsch sind? Doch die Frage lautete, was ist, wenn die Soziobiologen Recht haben? Könnte sich ihre evolutiv-funktionalistische Theorie über das menschliche »Selbst« in dem Sinne durchsetzen und etablieren, dass die Menschen zu einem Selbstverständnis von sich selbst als »Niemandem« gelangen? Mit welchen Konsequenzen? Hätte man mit einer Pandemie der psychischen Zusammenbrüche und der Verzweiflung zu rechnen? Oder änderte die soziobiologische »Erkenntnis« deshalb nichts an unserem unmittelbaren Selbstverständnis und unserem täglichen Leben, weil wir eben Roboter sind, die nicht anders können, als ihre Programme abzuspulen? Aber wie ist dann die desillusionierende und die menschliche Eitelkeit zutiefst kränkende Einsicht in unser Niemandsein zu verstehen? Als Programmier-»Fehler« der Evolution oder als »Virus«, das im Würfelspiel der Mutationen zufällig entstanden ist und nun das reibungslose Funktionieren der Menschmaschinen zumindest empfindlich stören könnte, da eben eine Vielzahl von bisher überlebensdienlichen Täuschungen als solche entlarvt werden? Könnte eine Lösung des Problems darin bestehen, dass wir so etwas wie eine allgemeine Form der Schizophrenie entwickeln, die es uns erlaubt, zwischen dem Bewusstsein der »Wahrheit« und dem lebenspraktischen Festhalten an allen Selbsttäuschungen hin und her zu pendeln?
 
Wie immer man derartige Fragen konkret beantwortet: Die soziobiologischen Thesen über »Selbstbewusstsein« und »Seele« des Menschen bergen viele höchst praxisrelevante Probleme, die nicht zuletzt für Philosophie, Psychologie und Erziehungswissenschaften eine enorme Herausforderung sind und nicht einfach mit dem lapidaren Hinweis abgetan werden können, dass die »Wahrheit« eben zu akzeptieren sei.
 
 Das »anthropologische Dilemma«
 
Eine weitere Kernthese der Soziobiologen lautet, dass wir Menschen Kleingruppenwesen sind, genetisch »programmiert« auf das Leben und Überleben in relativ kleinen, überschaubaren sozialen Verbänden. Dementsprechend ist auch unsere Neigung zu sozialem oder »moralischem« Verhalten eindeutig nahbereichsorientiert. Dagegen neigen wir gegenüber Menschen, die nicht zu unser »Ingroup« gehören, gerade nicht zu altruistischem Verhalten, sondern eher zu Gleichgültigkeit und — je nachdem, wie sehr sie uns in die Quere kommen — zu verschiedenen Formen der Fremdenfeindlichkeit bis hin zu Aggressivität und Gewalt. Die Grenzen unserer natürlichen Moralfähigkeit werden zwar als dehnbar angesehen, jedoch nicht in beliebigem Ausmaß. Wenn die eigene Lebenssituation sowie die der jeweiligen »Ingroup« als gefährdet angesehen wird, neigen wir in Sachen Moral dazu, die Schotten dicht zu machen und uns nach »außen« schärfer abzugrenzen.
 
Doch wie könnte aus diesem Phänomen, das doch offensichtlich höchst natürlich ist, ein Problem erwachsen? Angenommen, es gäbe heute eine Fülle von »Menschheitsproblemen« wie etwa Weltbevölkerungsentwicklung, weltweite Migrationsbewegungen und ökologischen Raubbau sowie deren vielfältige Wechselwirkungs- und Rückkopplungseffekte. Nehmen wir zudem an, diese globalen Probleme hätten ein Ausmaß erreicht, das die Gattung Mensch als Ganze bedroht — völlig unabhängig davon, ob ihre Vertreter im Luxus des Nordens oder im Elend des Südens leben. Dann verlangen jene Menschheitsprobleme offenbar dringend globale Lösungsansätze und effiziente globale Zusammenarbeit, weil sie von einzelnen Staaten nicht mehr bewältigt werden können. Aber dann stecken wir Menschen — falls die Soziobiologen Recht haben — offensichtlich in einem echten Dilemma — eben dem »anthropologischen Dilemma«. Denn die Soziobiologie spricht uns doch die Fähigkeit ab, dem geforderten globalen Maßstab in unserem Wahrnehmen, Denken und Handeln gerecht werden zu können: Wir sind nun einmal Kleingruppenwesen und neigen unter Druck viel eher dazu, uns abzuschotten und »einzuigeln« als kooperative Lösungen mit »den anderen« zu erarbeiten.
 
Müssen wir also davon ausgehen, dass es gerade nicht zu der objektiv gebotenen Globalisierung der Lösungsstrategien kommt, wenn etwa die ökologischen Gefahren überall akut werden und sich in vielen Staaten der Erde ein spürbarer Leidensdruck einstellt, sondern viel eher zu einem Rückfall in (aggressive) Verhaltensmuster entsprechend unserer »ersten Natur«? Und müssen wir demnach eingedenk der soziobiologischen These, dass einem wachsenden Moralbedarf keine wachsende Moralfähigkeit entspricht, damit rechnen, zwischen den »Mühlsteinen« jener ersten Natur und den faktisch gegebenen Überlebensbedingungen zermahlen zu werden? Ist folglich der Mensch, jenes »blöde Viech« — wie ihn Konrad Lorenz liebevoll nannte —, schlicht »zu dumm zum Überleben«?
 
Es ist zu hoffen: nein. Aber die Gretchenfrage lautet, wie jenes Dilemma aufzulösen sein könnte. Wenn die Soziobiologen Recht haben, dann wäre es doch naiv, unrealistisch und illusionär, die Hoffnungen auf den wahrhaft »neuen Menschen« zu setzen, der sich gleichsam über sich selbst erhebt, sich zur Praxis einer universalistischen »Ethik gegen die Gene« aufschwingt und sich in allen Kontinenten und Kulturen das »Humanum« auf den moralischen Schild zu heften bereit ist. Geht man ferner davon aus, dass im Zeitalter der weltweiten Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und der immer engeren ökonomischen und politischen Vernetztheit jeder Gedanke an eine gewaltsame Auflösung des Dilemmas unsinnig, anachronistisch und unweigerlich selbstzerstörerisch wäre, dann bleibt aus soziobiologischer Sicht als Ausweg offensichtlich nur eines: der Appell an die menschliche Klugheit.
 
Nur wenn es gelingt — zumal in den Wohlstandsgesellschaften der Erde —, in den Menschen ein Bewusstsein zu erzeugen, dass es bei der Lösung globaler Probleme nicht um Moral oder die Wahrung und Mehrung eigenen oder fremden Wohlstands geht, sondern um die eigenen grundsätzlichen Überlebensinteressen, besteht Aussicht auf Erfolg. Denn das »Prinzip Eigennutz« ist die einzige realistische Basis der Ethik und der Politik — wenn die Soziobiologen Recht haben.
 
Dr. Thomas Mohrs, Passau

Universal-Lexikon. 2012.

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